Man sollte sich in der Diskussion von dem Begriff "entdecken" verabschieden, da er sich immer auf die subjektive Wahrnehmung des jeweiligen "Entdeckers" bezieht.
Natürlich hat Columbus Amerika "entdeckt" - aus Sicht der südwesteuropäischen Seefahrernationen seiner Zeit, auf deren Kenntniserlangung letztlich die weitere geschichtliche Entwicklung bis heute basiert. Natürlich haben die Wikinger Amerika "entdeckt" - aber nur aus Sicht der skandinavischen Kultur des hohen Mittelalters und historisch letztlich folgenlos. Eventuell haben auch die Chinesen Amerika "entdeckt" - aber ebenfalls nur aus ihrer eigenen kulturellen Perspektive und historisch insoweit folgenlos.
Der Umstand, dass eine bestimmte Erkenntnis zu anderer Zeit an anderem Ort bereits vorhanden war, aber wieder verloren ging, schmälert nicht die Leistung eines späteren (Wieder-)"Entdeckers".
Was Amerika betrifft, darf man zudem nicht übersehen, dass das Erreichen des "neuen" Kontinents sowohl über den Atlantik aus Europa als auch über den Pazifik aus Ostasien bereits für viele seefahrende Völker der Antike ohne weiteres technisch möglich gewesen wäre. Angesichts des Umfangs der antiken Schiffahrt in Europa und Asien ist es auch durchaus wahrscheinlich, dass verirrte oder maneuvrierunfähige Schiffe vereinzelt die amerikanischen Küsten erreicht haben könnten - vielleicht rührt daher die bei vielen Völkern vorhanden gewesene vage Vorstellung von der Existenz eines Landes jenseits des großen Ozeans.
Wenn man die "prä-kolumbischen" Seereisen nach Amerika (in Abgrenzung zur vorangegangenen, auf dem Landweg erfolgten Besiedelung des Kontinents durch die "Indianer") in eine systematische Ordnung bringen wollte, sähe sie grob etwa so aus:
um 1200 v. Chr. afrikanische Stämme
(heutiges Mexiko)
Kontakt wird vermutet aufgrund bestimmter
religiöser Vorstellungen und künstlerischer Dar-
stellungen der Olmeken
keine sonstigen Belege
um 500 v. Chr. Polynesier
(heutiges Kalifornien)
Kontakt wird vermutet aufgrund von Überlieferungen
bestimmter kalifornischer Indianerstämme und
aufgrund linguistischer Parallelen
keine archäologischen Belege
um 100 n. Chr. Römer
(mittlerer Westen Nordamerikas; Küsten Südamerikas)
Reisen werden vermutet aufgrund einzelner nicht
geklärter archäologischer Funde (römische Münzen in
New Albany, angebl. Wrackfund von Guanabara Bay
u. a.; auch: Fund der Darstellung einer Ananas auf
einem Mosaik in Pompeii); von Skeptikern als
Fälschungen oder Zufälle abgelehnt
um 530 n. Chr. St. Brendan bzw. Bran
(Nordwestküste der heutigen USA?)
Die Seereise des irischen Mönchs St. Brendan ist in
legendenhaften Texten überliefert; die Behauptung,
er sei nach Amerika gelangt, stellt eine (tw. religiös
motivierte?) moderne Interpretation dar.
keine archäologischen Belege
um 1000 Leif Eriksson
(Neufundland und nordamerikanische Küste)
relativ gute Quellenlage; gilt als bewiesen und
archäologisch belegt
um 1000 Culdee-Mönche
(heuige US-Staaten Maine oder New-Hampshire)
Mönche des Culdee-Ordens sollen auf der Flucht vor
marodierenden Normannen mit Schiffen den Atlantik
überquert haben und im heutigen Neuengland gelandet
sein. Vertreter der Theorie führen die Steinsetzungen
von Salem, New Hampshire, als Beweis an, die an-
geblich irischen Vorratsspeichern aus der fraglichen
Zeit gleichen sollen. Skeptiker halten die Bauten für
Reste von Farmen des 17. / 18. Jahrhunderts.